Ich komme mir vor als ob ich eine der Figuren aus Tolkiens Märchen bin. So sehr erinnert mich diese Landschaft hier oben auf dem Mondberg in Yangshuo an die Welt von Frodo, Gandalf und Gollum. Aber alles der Reihe nach. Unser Hotel inmitten von Reisfeldern nahe Yangshuo bietet einen phantastischen Ausblick auf die bewachsenen Karstberge. Diese Berge sind so faszinierend, dass ich aus dem Staunen gar nicht mehr heraus komme. Maler und Schriftsteller berichten über diese liebliche und einzigartige Landschaft seit Jahrhunderten. Aber die Geschichte der Karstberge erzähle ich ein anderes Mal. Jetzt geht es um den Mondberg.
Der liegt am Rande von Yangshuo. Einem Ort in der bezirksfreien Stadt Guilin in Guangxi. Etwa vier Stunden mit dem Flieger von Beijing entfernt. Der Mondberg von Yangshuo liegt auf 380 Metern. Schon von Weitem erkennt man leicht, warum er so heißt. Wegen der halbrunden Öffnung in dem Gipfel wird er Mondberg genannt. Der Berg ähnelt einem Vollmond. 800 beschwerliche Stufen führen hinauf zum Gipfel. Der Eintritt mit 20 Yuan ist preiswert. Wir lassen unsere Rädern neben dem Tickethäuschen stehen. Es ist unendlich schwül. Meine Bluse klebt am Körper. Jeder Schritt strengt an in diesen subtropischen Breiten. Unterwegs treffen wir viele andere Touristen, vor allem Chinesen. Bis auf eine Ausnahme. Eine Familie aus Charlotte in North Carolina mit ihren Großeltern aus Kolumbien, genauer gesagt, aus Kali.
„El Patrón” hat gleich drei fächernde Omas gemietet, damit der Weg nach oben nicht ganz so beschwerlich wird. Wir dagegen haben keine kleinen Chinesen um uns herum, die jede Schweißperle weg wedeln. Uns fehlt wahrscheinlich die koloniale Vergangenheit. Wir kämpfen uns Schritt für Schritt nach oben. Nicht so einfach, denn jede Stufe ist unterschiedlich hoch. Fühle mich so ein bisschen wie im lateinamerikanischen Urwald. Umgeben von viel Grün und Feuchtigkeit. Oben angekommen werden wir durch einen phantastischen Blick belohnt. Auf die Stadt und die Natur. Die Mondsichel aus Stein ist eine natürliche Lüftung. Der Enkel der Kolumbianer erzählt mir vom Besuch seiner Großeltern. Er spricht Englisch und Spanisch und ist von der Gegend hier fasziniert. Wir ruhen uns noch ein wenig aus, machen gefühlt hundert Fotos und staunen einfach. So unwirklich ist der Blick durch den Mondberg. Es scheint eine ideale Filmkulisse zu sein. “Herr der Ringe” kann nur hier gedreht worden sein. So fabelhaft wirkt der Wald, zeigt das Spiel zwischen Sonne und Schatten.
Beim Runtergehen treffen wir auf eine alte Frau. Sie eilt uns wie ein junges Mädchen entgegen. Im Gepäck zwei schwere Kühltaschen voller Getränke. Wir haben zwar eigenes Wasser in den Rucksäcken, aber vor lauter Scham kaufen wir ihr 2 Flaschen kühles Wasser für 10 Yuan ab. Die alte Frau zeigt mir ihr Buch, in dem Menschen aus aller Welt ihr einen Spruch reingeschrieben haben, andere haben Geldscheine aus ihrem Heimatland in dieses Poesiealbum geklebt. Ganz stolz erzählt uns die Oma, dass sie 72 Jahre alt sei und hier jeden Tag mehrfach hoch und runterlaufen würde. Natürlich schreibe ich ihr auch was ins Buch, einen deutschen Geldschein oder eine Euro-Münze habe ich leider nicht dabei. Wir verabschieden uns.
Noch lange muss ich darüber nachdenken, dass diese alte Frau für umgerechnet wenige Cents Gewinn am Tag so eine beschwerliche Arbeit macht. Doch sonst könnte sie auch in dieser Gegend hier wohl nicht überleben. Wer alt und arm ist in China, muss auch noch im hohen Alter arbeiten. Ganz anders als bei uns. Das ist mir auch an vielen anderen Orten in diesem wunderschönen Land aufgefallen. Hier am Mondberg aber haben die alten Frauen durch die vielen Touristen zumindest eine Chance auf einen Verdienst, auch wenn der hart erarbeitet werden muss.